Antisemitismus

Nach den antisemitischen Vorfällen um die documenta fifteen beherscht ein kollektives Schulterzucken das Land. In den Feuilletons ist es still geworden, den Politik-Teil hat die Antisemitismus-Debatte vom Sommer 2022 leider vielfach gar nicht erst erreicht. Das ist bitter und ein Problem, weil gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit dann vielfach abgestritten oder ignoriert wird, wenn „Antisemitismus“ drauf steht. Weil ich immer wieder mit Fragen dazu konfrontiert werde, ob es denn „wirklich so schlimm“ sei, welche „Belege“ ich denn hätte und welche Quellen zu meinen „Thesen“, will ich hier in der BRD existierende Studien auflisten. Mir ist wichtig, dass sich viele Menschen mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzen.

Das Kunst-Jahr 2022 war geprägt von Antisemitismus-Debatten rund um die documenta fifteen. Es gab frühzeitige Warnungen von anonymer Seite, auch jüdische Stimmen warnten. Kurz nach der Eröffnung tauchten Bilder auf, deren antisemitische Stereotype wir hier in der BRD seit den 40er Jahren in dieser offen-öffentlich dargestellten Form nicht mehr gesehen hatten. Verantwortliche wurden gesucht, um einen Umgang mit den Vorfällen gerungen, „Diskurse“ angekündigt und wieder abgesagt, „die Wissenschaft“ herbeizitiert – einechronologische Übersicht der Fakten zum Antisemitismus / documenta fifteen findet sich hier. WAs auch Fakt ist: Irgendwann war die documenta vorbei und es wurde still um Antisemitismus. Ist er denn jetzt etwa wieder weg? Kam er mit der documenta angeflogen oder war er auch davor schon da?

Anders als bei antisemitischen Straftaten, wo es unter dem Label „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) eine Erfassung antisemitischer Straftaten durch das BKA gibt1, wird Stand 2022 von niemandem ein dauerhaftes, regelmäßiges und umfassendes Monitoring zu antisemitischer Haltung in Deutschland betrieben. Vereinzelt fragen repräsentative Studien antisemitische Einstellungen als einen Aspekt unter vielen ab, so z.B. die Langzeitstudien „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (2002-2011)2, die „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES „Mitte-Studien“, seit 2006 biannual)3 und die parallel dazu durchgeführte Leipziger Autoritarismus-Studie (seit 2002 biannual)4.

Ich bin keine Historikerin. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass es in der langen, düsteren Geschichte des Judenhasses viele Formen von Hass gegen Jüdinnen*Juden: von religiösem Antijudaismus (Beispiele u.a.: „Gottesmörder“-Erzählung, „Der wandernde ewige Jude“-Mythos, Hostienraub- und Ritualmord-Mythen. Folge u.a.: strenge Judengesetzgebung des kanonischen Rechts mit auf Synoden/Konzilen erlassenen Gesetzen wie Ehe-Verbot Christen/Juden, Konversionsverbot zum Judentum, Verbot gemeinsamen Essens, äußerliche Kleidungs-Kennzeichnung (IV. Laterankonzil 1215), Separierung von Juden*Jüdinnen (Synode Breslau 1267) mit z.T. hermetisch abgegrenzten Wohngebiete z.B. in Frankfurt 1462) sowie Zwangstaufe, Inquisition und Vertreibung, über fast „volkstümlichen“ Antisemitismus („Brunnen-Vergiftungs“-Mythos der Pest-Zeit) über weltliche Verfolgung und Vertreibung (u.a. Zünfte-Verbot, Juden-Pogrome, „Hofjuden“), Ausschluss von Jüdinnen*Juden aus Reichsämtern8, propagandistisch-politischem Antisemitismus rund um den ersten Weltkrieg9, bis hin zum Antisemitismus der 50er Jahre im Ostblock (Verschwörungstheorien über „internationalen Zionismus, der mit dem Weltkapitalismus verwoben sei“ mit Säuberungsaktionen)6 gab und gibt.

Prof. Dr. Beate Küpper, Kooptiertes Mitglied des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung, beide zeichnen u.a. für mehrerer „Mitte“ Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung verantwortlich, schreiben zum Antisemitismus heute, dieser trete in „mindestens drei Facetten“ auf:

  • klassischem Antisemitismus, mit antijüdischen Stereotypen und antisemitischen Verschwörungsmythen, z.T geht dies bis hin zu einer Art Welterklärung für alles erdenkliche Unheil, ohne explizit den Begriff Jude*Jüdin zu verwenden – Eliten-Verschwörungsmythen gehören hierzu;
  • sekundärem Antisemitismus, mit Bezug zum Holocaust: Jüdinnen*Juden wird Mitschuld an ihrer Verfolgung zugeschrieben, Juden*Jüdinnen wird unterstellt, Vorteile aus der Shoa zu ziehen. Die Forderung nach einem „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit und ein Ende der Aufarbeitung gehören zu sekundärem Antisemitismus, den man auch „Post-Holocaust-Antisemitismus“ nennen könnte. Drückt implizit eine Täter-Opfer-Umkehr aus, diese Umkehr ist typisch für Antisemitismus.
  • Antisemitismus mit Israel-Bezug, der Israel als Code für Jüdinnen*Juden verwendet. Antipathie gegenüber Jüdinnen*Juden sucht hier ihre Rechtfertigung in der Politik Israels gegenüber den Palästinensern*Palästinenserinnen. Verhalten des Staates Israel gegenüber den Palästinensern*Palästinenserinnen wird dem Verhalten von NS-Deutschland gegenüber Juden*Jüdinnen gleichgesetzt.

Diese dritte Facette von Antisemitismus mit Israelbezug wird besonders hitzig diskutiert. Eine

  • pauschalisierende Abwertung und Belegung mit Stereotypen von Jüdinnen*Juden,
  • die Verwendung von Doppelstandards bei der Kritik an israelischer Politik (beispielsweise auf andere Länder andere Standards anzuwenden als auf Israel),
  • sowie die Gleichsetzung von Israel mit NS-Deutschland (d. h. Jüdinnen*Juden zu Tätern*Täterinnen machen und damit die Taten Deutschlands gewissermaßen zu relativieren)

– all dies zeigt bei aller hitizgen Debatte dabei immer eindeutig antisemitische Züge. Bei allen Formen des Antisemitismus gibt es dabei kognitive (stereotypen Vorstellungen über die Gruppe der Jüdinnen*Juden), emotionale (Neid, Hass etc.) und verhaltensbezogene (z.B. Wunsch nach Abstand, nach Sanktionen etc) Erscheinungen.

Antisemitismus hat dramatisch zugenommen

Zurück zu Zahlen. Unten in den Fußnoten, Quellenangaben und im „Weiterlesen“ Teil kan man tiefer in die Zahlen einsteigen:

Aus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen. Bericht der unabhängigen Expertenkomission der Bundesregierung, 2017. Dies ist der in 2022 aktuellste verfügbare Bericht.
Langzeit Überblick über mehrere Jahre FES-Mitte Studien, zusammengestellt von Franziska Schröter, Referentin für das Projekt „Gegen Rechtsextremismus“ im Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), Links zu Studien in den Fußnoten!
Klassischer Antisemitismus in Deutschland. Antworten aus: FES-Mitte-Studie 2018/19, S. 124-125; Leipziger Autoritarismus-Studie 2018, S. 194, Links zu den Studien siehe in den Fußnoten/Quellenangaben
201920202021Steigerung 2019-2021
2.0322.3513.02748,97 %
Zahl antisemitischer Straftaten/Jahr laut BKA Statistik5

Ich hoffe, alle sind nochn da und niemand hat das alles erschlagen. Ich hoffe auch, mehr Menschen verstehen, dass es bei Antisemitismus keineswegs nur um eine „These“ ein „Gefühl“ oder einen „Eindruck“ geht. Dass wir gemeinsam über das Problem sprechen und anerkennen, dass es in unserer Mitte existiert, das sehe ich als ersten Schritt, dem Hass entgegenzutreten.


Übersicht aller Studien, die Antisemitismus mit erheben, Stand 2016 hier. Weitere Quellen und Bezüge:

  1. Erklärung der Kriminalstatistik zur PMK und aktuelle Statistik des BKA für 2021 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/kriminalitaetsstatistik-pmk-2016140
  2. Wilhelm Heitmeyer (2002-2011): Deutsche Zustände, Folge 1 bis 10. Frankfurt a.M./Berlin, Suhrkamp Verlag.
  3. Link zur jüngsten „Mitte“ Studie (2021) der FES: https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie-2021
    Alle „Mitte“ Studien sind als gedruckte Exemplare und PDFs direkt bei der Friedrich-Ebert-Stiftung zu beziehen: https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/publikationen/studien/gutachten Die aktuellsten beiden Studien sind:
    2021: Andreas Zick / Beate Küpper (2021) Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröter. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2021. 375 S., Broschur, 16,00 €, ISBN 978-3-8012-0624-6
    2019: Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan (2019): Verlorene Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Hrsg. von Franziska Schröter für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn.
    FES Mitte Studie 2014
    FES Mitte Studie 2016
    FES Mitte Studie 2019
    FES Mitte Studie 2021
  4. 2018: Oliver Decker; Elmar Brähler (2018). (Hrsg.): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018. Gießen 2018. https://www.theol.uni-leipzig.de/kompetenzzentrum-fuer-rechtsextremismus-und-demokratieforschung/leipziger-autoritarismus-studie sowie im Langzeit-Analyse-Überblick hier https://www.boell.de/de/2020/11/05/die-leipziger-autoritarismus-studie-2020-methode-ergebnisse-und-langzeitverlauf
  5. Quellen zu Zahlen Politisch Motivierter Kriminalität PMK: BKA Bericht 2019 BKA Bericht 2020 BKA Bericht 2021
  6. Antisemitismus in der ehemaligen DDR und im Ostblock https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/322325/antizionismus-in-der-fruehen-ddr/
  7. Küpper/Zick – Bundeszentrale für politische Bildung: „Antisemitische Einstellungsmuster in der Mitte der Gesellschaft“ https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/322899/antisemitische-einstellungsmuster-in-der-mitte-der-gesellschaft/
  8. Geschichte des Antisemitismus – Prof. Gideon Botsch, Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, im Gespräch mit Sven Scherz-Schade, Deutscher Kulturrat https://www.kulturrat.de/themen/demokratie-kultur/juedischer-alltag/geschichte-des-antisemitismus/
  9. Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/37948/antisemitismus-im-19-und-20-jahrhundert/

Weiterlesen: