Doppelspitze geteilte Führung Löwen gemeinsam zwei beide

Programm oder Finanzen?! Überlegungen zu Doppelspitzen und der Patt-Situation bei der Wahl der HR-Intendanz

Patt! 16:16 in drei geheimen Wahlgängen um die Neubesetzung der Intendanz des Hessischen Rundfunks – HR. Wer je Rundfunkratsmitglied war oder auch nur einem nahestand, weiß, dass jetzt die Drähte heißglühen und die Handys nicht mehr stillstehen. Alle, die eine Nummer greifbar haben von wem, der jemand kennt, der eine kennt, die im Rundfunkrat des HR sitzt, werden zum Telefon greifen und versuchen ihre – selbstverständlich perfekte, hilfreiche und wichtige – Meinung pro Florian Hager oder pro Stephanie Weber noch rasch kund zu tun. Ich habe da natürlich auch einen Hinweis für die Findungskommission und die Wahlberechtigten: Doppelspitze!

Wenn es um die Neubesetzung von Führungspositionen geht, liest man meist von „Machtkampf“, „harter Entscheidung“ und natürlich dem „Sieger“ respektive der „Siegerin“. Dieses Wording impliziert, dass Führung unter einer einzigen Person quasi ein Naturgesetz ist, Gott gegeben, alleinige, beste Lösung und durch nichts zu erschüttern. Bei mir persönlich kommen da Fragezeichen auf. Wer sagt denn, dass es immer eine einzelne Führungspersönlichkeit geben muss? „Der Programm-Mann tritt gegen die Zahlen-Frau an. Eigentlich bräuchte der HR beide“ schrieb die SZ. Das sehe ich auch so. Warum eigentlich sollte der Hessische Rundfunk HR denn nicht beide haben?

Zwei sehr gute Führungspersönlichkeiten, die beide gebraucht werden

In den letzten Jahren nahmen an immer mehr Theatern Doppelspitzen in der Intendanz die Arbeit auf, die Berlinale hat eine Doppelspitze, die DFFB ebenso. Oft tut das gut, balanciert Machtmissbraucht, macht Führung demokratisch. In Auch große Unternehmen probierten sich immer wieder in Doppelspitzen: Oracle, SAP, Salesforce, Nitendo um nur einige zu nennen. Doppelspitzen sind keineswegs eine Erfindung der Neuzeit:

Die Germanen kannten das Doppelkönigtum, noch früher dran waren die Römer mit den sich gegenseitig kontrollierenden Konsuln der römischen Republik oder die Doppelkaiser Lucius Verus und Marc Aurel., überall als „Mitkaiser“ geführt. Auch anderswo in der Welt lebte man geteilte Führung, wie bei den Chasaren teilten die Königswürde des Khagan Bek auf eine religiös-spirituelle Führung, den Khangan mit begrenzten Vollmachten, und den Bek, die Führung für Verwaltung und Armee, auf.

Gemeinsam führen ist keine Neuigkeit

Auch in der politischen Neuzeit gab und gibt es gemeinsame Führung: nachdem wir Grüne seit bereits einem knappen halben Jahrhundert beweisen, dass Doppelspitzen funktionieren, hatte sich auch die SPD nach langer Selbstzerfleischung eine Doppelspitze verordnet und siehe da: wurde trotz?, dank? aber in jedem Fall mit Doppelspitze Kanzler. – Dabei will ich gemeinsame Führung keineswegs idealisieren (schon gar nicht in der SPD) oder als einfach darstellen. Wie alles in der Welt hat singuläre Führung ebenso wie gemeinsame Führung vor- und Nachteile. Um sie zu erahnen, muss man noch nicht einmal Führungskraft sein: Wer je demokratisch und gleichberechtigt gemeinsam mit seiner Familie versucht hat, Ferien zu planen, die alle glücklich machen, weiß, dass gemeinsam entscheiden, Finanzen verwalten und Verantwortung tragen keineswegs eine leichte Aufgabe ist.

Mir geht es darum, einen Gedankenraum aufzustoßen: Angesichts großer und dringlicher Aufgaben sollten wir alle uns fragen, ob gemeinsame Führung heutzutage noch generell abgelehnt werden sollte, oder auch Chancen bieten kann. Wenn es zwei sehr gute, sehr geeignete Kandidierende gibt – vielleicht braucht man beide? In der Tat ist es so, dass Krisen und der Bedarf nach breit aufgestellten Führungskräften oft der Grund für gemeinsame Führung waren. Ein bestehendes Modell hatte sich überlebt. Die eine Lösung zur Nachfolge gab es nicht, unterschiedliche Talente und Persönlichkeiten, die sich Ergänzung und Reibungsfläche bieten, waren gefragt, um wie ein Katalysator zu etwas zu kommen, was größer war als die Summe der einzelnen Teile.

Mehr als die Summe der beiden Teile

So bekam Oracle 2014 bis zum Tod von Mark Hurd eine Doppelspitze, nachdem der Oracle Gründer die Unternehmensleitung nach 37 Jahren abgab. Auch bei der dffb kam die Doppelspitze nach einem Skandal um den ehemaligen Leiter, nach dem zweiten Weltkrieg sorgten in Bayern 1945 eine Doppelspitze von Staatsräten im von den Nazis komplett umgebauten Kultusbereich für einen Neuanfang. Im Vergleich dazu stehen die Landesrundfunkanstalten doch relativ gut da. Trotzdem stehen wir vor einer Situation wo vielleicht mehr zu tun ist, als ein Mensch leisten kann, oder?

Doppelspitzen erfordern Mühe, Arbeit und Disziplin: klare Aufgabenteilung, geregelte Verantwortungsbereiche, enge Abstimmung, tiefes Vertrauen, persönliche Größe und den Blick aufs gemeinsame Ganze stärker als den Blick auf das eigene Ego. Die Herren Söder/Laschet beispielsweise hätten wohl keine gute Doppelspitze abgegeben. Und ja, Doppelspitzen können zu Fehlentscheidungen kommen – freilich. Aber sind Konzerne mit singulärer Führung davor gefeit? Eine sehr gute Führungspersönlichkeit ist nie wie die andere sehr gute Führungspersönlichkeit. Was, wenn beide sich ergänzen, befruchten und dort, wo sie in unterschiedliche Richtungen tendieren, den Spagat des Ausgleichs schaffen, der leider so oft fehlt? Unsere heutige, tief zerklüftete und auseinanderdriftende Gesellschaft könnte Doppelspitzen mehr vertragen, denn je. Das gilt auch und gerade für unseren Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, der für alle – alle! – Programm machen soll, dabei möglichst nichts kosten und sich für eine glorreiche Zukunft gut aufstellen.

Wenn ich fantastisches Programm mag, Frauen in Führung stärken will, Teamplay wichtig finde und eine eher progressive Haltung habe, wünsche ich mir eine eben solche Führungspersönlichkeit. Bin ich eher traditionell eingestellt, wünsche mir Erfahrung im juristischen Bereich, kluge Finanzplanung und Expertise bei nationalen Verhandlungsrunden sowie Disziplin und Sparsamkeit, finde ich eine andere Führungspersönlichkeit perfekt. Mag ich Charisma, Überzeugungskraft, gutes Marketing der eigenen Ideen, klare Haltung und Entscheidungskraft ohne faule Kompromisse, gefällt mir vielleicht Führungskraft Nummer drei.

Mut zum Führung neu denken

Dabei finde ich nicht, dass man Doppelspitzen starr und auf ewig von oben herab verschreiben müsste. Weder für den HR noch generell. Jede Zeit, jede Gesellschaft und jede Lage hat ihren Weg, Entscheidung und Führung selbst zu definieren und zu finden. Was wäre, wenn die beiden Kandidierenden um die HR-Intendanz jetzt diejenigen wären, die nach dem Dauer-Patt am meisten telefonieren würden – und zwar miteinander? Was wäre, wenn sie den Ruf der Wählenden nähmen und damit zu arbeiten begännen, gemeinsam, für einen starken Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, den sie sicher beide wollen? Das wunderbare an einer Doppelspitze ist, dass sie mehr in sich vereint, als die einzelne Person das kann. Vielleicht ist ein Patt in drei Wahlgängen darum kein Drama, sondern ein gutes, kluges und starkes Zeichen in Richtung eines Führung neu denken, das unserem Rundfunk mit seinen bisher oft steilen Hierarchien generell gut tun könnte.


Weiterlesen:
Doppelspitzen – doppelt spitze? – ein Dossier.
Die Dossiers Politik & Kultur erscheinen als Beilage zu Politik & Kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates, herausgegeben von Olaf Zimmermann und Theo Geißler. Redaktionsschluss der vorliegenden Ausgabe: Juni 2020.